Anfrage der Fraktion DIE LINKE zur Sitzung des Sozialausschusses am 26.11.2014: (verdeckte) Altersarmut in Kerpen

Annetta Ristow

Immer mehr alte und kranke Menschen können nicht mehr von ihrer Rente leben. Messbar ist dies seit Jahren am stetigen Anstieg der Zahl derjenigen, die Grundsicherung im Alter bzw. bei Erwerbsminderung beziehen. Bundesweit gibt es einen Anstieg um 105 Prozent für den Zeitraum 2003 – 2012. Das sind in 2012 also doppelt so viele Menschen wie 2003, nämlich 899.846 Einwohner*innen unseres Landes. Die landesweite Entwicklung bei den Erwerbsminderungsrenten ist nicht die alleinige Ursache für diese Situation, auch bei den Altersrenten ist die Lage dramatisch: Am 31.12.2012 waren 45,8 Prozent aller bestehenden bundesdeutschen Renten niedriger als 706 €, wobei die Bundesländer im Westen deutlich stärker von dieser Entwicklung betroffen waren, insbesondere in NRW lagen 50,3 Prozent der Rentnerinnen und Rentner unter dem Grundsicherungsniveau. Vor allem die Frauen sind in NRW die Leidtragenden: 75,4 Prozent von ihnen erreichten mit ihren Renten nicht die Grundsicherungsschwelle.[1] Fazit: Die Rente ist in Deutschland eben nicht mehr armutsfest. Sie reicht nicht mehr zum Leben und muss oft mit Sozialleistungen aufgestockt werden – mit der Folge oft als entwürdigend, stigmatisierend oder schikanös empfundener Behördengänge, selbst nach einem oft langen harten Arbeitsleben als Hausfrau und Mutter oder Erwerbstätige/r.

Aktuell ist zu konstatieren, dass die Zahl älterer und kranker Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, erneut gestiegen ist, nämlich um 7,4 Prozent auf knapp eine Million.[2] Die Ausrede der Bundesregierung, dies liege daran, dass es mehr Ältere gibt, ist hanebüchen: 2005 waren 22 von 1000 Menschen ab 65 auf Sozialhilfe angewiesen, Ende 2013 waren es schon 30.[3]

Die Linksfraktion Kerpen fragt:

1.      Wie hoch ist das örtliche Niveau der Grundsicherung im Alter für Alleinstehende außerhalb von Einrichtungen in Kerpen bzw. dem Rhein Erft- Kreis? – Gibt es einen Unterschied zwischen der örtlichen zur bundesweiten Grundsicherungsschwelle?

2.      Wie groß ist differenziert nach Geschlecht für den Zeitraum 2008 – 2013 die Zahl/bzw. der Anteil, bezogen auf ihre Altersgruppe, derjenigen in Kerpen, die Grundsicherung im Alter beziehen?

3.      Stimmt es, dass die Situation in der jüngeren Bevölkerung in Kerpen im Alter von 18 – 65 Jahren eine gleichbleibend höhere Anzahl/Quote von Menschen aufweist für diesen Zeitraum, die als erwerbsfähige Leistungsberechtigte Grundsicherung für Arbeitssuchende beanspruchen müssen und in welchem Ausmaß differiert die Quote/Anzahl? Wenn ja, welche Gründe könnten die Differenz erklären? – Auch hier bitten wir um geschlechtsspezifische Angaben.

4.      Wie groß ist differenziert nach Geschlecht für den Zeitraum 2008 – 2013 die Zahl/bzw. der Anteil, bezogen auf ihre Altersgruppe, derjenigen in Kerpen, die 65 Jahre und mehr alt sind und zusätzlich zu ihrer Rente Wohngeld beziehen?

5.      Wie viele Rentnerinnen und Rentner differenziert nach Geschlecht in Kerpen über 65 Jahre erreichen trotz Rente und Wohngeld das Grundsicherungsniveau[4] nicht?

Zu 3.: Die Linksfraktion Kerpen geht davon aus, dass es eine solche Differenz gibt und dass für ihre Erklärung von einer entsprechenden Dunkelziffer von eigentlich Berechtigten auszugehen ist. Das heißt demnach mit anderen Worten: Es gibt eine verdeckte Altersarmut. Eine entsprechende Dunkelziffer anzusetzen, das wird bestätigt durch eine Studie von Irene Becker (2012).[5] In ihr wird ermittelt, dass die Quote der Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung im Alter bei gut zwei Dritteln liegt. Dies würde auch für Kerpen eine aus unserer Sicht zu erwartende deutlich niedrigere Quote von Menschen über 65, die Grundsicherung beantragen, gegenüber voll erwerbsfähigen Menschen unter 65 erklären helfen.

Es steht daher aus unserer Sicht zu vermuten: Wie anderswo in unserer Republik haben auch in Kerpen viele Rentnerinnen und Rentner grundsätzliche Probleme, die Grundsicherung im Alter zu bekommen. Mögliche Gründe sind aus unserer Sicht Unkenntnis, Angst vor den Behörden, Angst vor sozialer Kontrolle, Angst vor drohenden Zwangsumzügen, sowie die irrige Befürchtung, dass die eigenen Kinder in Regress genommen werden könnten. Außerdem könnte für viele Betroffene eine Rolle spielen, bloß nicht in den in unserer Gesellschaft gegenüber in Armut Lebenden gerne in herabwürdigender Absicht geäußerten Generalverdacht des Sozialschmarotzers kommen zu wollen und deswegen zu meinen, eher nach der Maxime leben zu müssen: „Lieber eisern sparen, als zum Sozialamt zu gehen!“

Zu 4.: Als weiteren Indikator für die Situation von Rentnerinnen und Rentnern führt der Sozialforscher Rudolf Martens in seiner Studie (2014)[6] für den Paritätischen Wohlfahrtsverband den Bezug von Wohngeld im Alter an. Schließlich ist Wohngeld ebenso eine Form der sozialen Mindestsicherung. Addiert man entsprechend die Anzahl/den Anteil derjenigen, die als Rentnerinnen und Rentner Wohngeld beziehen, zu den Grundsicherungsfällen bei Altersrenten, so steht zu erwarten, dass sich der Anteil der bedürftigen Älteren verdoppelt und das Ausmaß der Altersarmut deutlicher wird.

Zu 5.: Der Hintergrund hierzu ist, dass durch den Wohngeldantrag viele Rentnerinnen und Rentner, die eine Nettorente unterhalb der Grundsicherungsschwelle erhalten, so in die Nähe der Grundsicherung kommen können bzw. diese ggf. erreichen, dadurch aber von Vermögensaufrechnung oder Pfändung befreit sind, was bei der eigentlichen Grundsicherung im Alter so nicht möglich ist.

Aus genannten Gründen steht aus Sicht der Linksfraktion Kerpen berechtigterweise zu vermuten, dass in Kerpen zahlreiche bedürftige Rentnerinnen und Rentner unter uns leben, die aus Unkenntnis oder Scham auf ihre Ansprüche hinsichtlich Grundsicherung im Alter verzichten.

6.      Wie könnte die Stadt den Betroffenen, insbesondere den betroffenen Frauen, Hilfestellung bieten, ihre Situation zu ändern?

Denn eigentlich ist die Rentenversicherung verpflichtet, über Ansprüche aufzuklären. Dies reicht aber offensichtlich nicht. Andererseits wurde im Zuge der Organisations- und Personalvorlage 2013/4 auch die städtische Rentenberatungsstelle im Bürgerbüro gekürzt auf eine 0,5-Stelle.

Rentnerinnen und Rentner haben einen Anspruch auf Rente, die sie vor Armut schützen soll. In zunehmendem Alter ist die Mobilität oft eingeschränkt, manche Ältere haben Depressionen, Krankheiten oder schämen sich einfach davor, vor Armut schützende Leistungen wie Grundsicherung im Alter zu beantragen. Es gehört mit zu den kommunalen Aufgaben, sich auch um diese Menschen in Kerpen zu kümmern, selbst in Zeiten von Haushaltssperre und schwarzer Null. Denn die Armut, die sich in unserem Land immer mehr ausbreitet, ist nicht durch Naturkatastrophen verursacht. Sie entwickelt sich seit Jahren still und leise, aber stetig und breitet sich in der Mitte unserer Gesellschaft immer mehr aus.

Linksfraktion Kerpen

[1] Zahlen aus: Matthias W. Birkwald, 2014, Immer mehr Alte und Kranke können nicht von ihrer Rente leben, Berlin.

[2]https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/PD14_384_221.html; Quelle Statistisches Bundesamt.

[3] Zahlen aus: http://www.matthias-w-birkwald.de/article/970.im-alter-aufs-sozialamt-das-darf-nicht-sein.html; Matthias W. Birkwald, 2014, Im Alter aufs Sozialamt – das darf nicht sein.

[4] Bundesweit für über 65 Jährigen: 747,00 Euro, nachzulesen: www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialleistungen/Sozialhilfe/Grundsicherung/Tabellen/06_Empf_DurchschnBetrVerschMerkmale.html, inkl. Erwerbsminderungsrentner unter 65 mit 725 € etwas niedriger

[5] Irene Becker, 2012, Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter, in: Zeitschrift für Sozialreform 2/2012; Hans-Böckler-Stiftung, 2012, Pressemitteilungen 2012: Studie: Grundsicherung erreicht viele arme Senioren nicht, 11.09.2012.

[6] Rudolf Martens, 2014, Altersarmut in Deutschland: Bislang nur die halbe Wahrheit. Hrsg. von Der Paritätische Gesamtverband, Berlin.