Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit 1

Thomas Ristow

1. Ein altes Problem

Die sogenannte Wohnungsnot, die heutzutage in der Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, daß die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen frühern unterdrückten Klassen, eigentümlich sind; im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig betroffen. Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen. – Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.

(aus: Engels, Friedrich, 1872/73, Zur Wohnungsfrage, in: Der Volksstaat)[1]

 

2. Wohnen ist Menschenrecht

Wohnen ist Grundzug der zeitlichen, weil vorübergehenden Existenz des Menschen auf der Erde. Eine Unterkunft haben, zu Hause zu sein ermöglicht es erst für die Zeitspanne, in der man lebt, sich in der Welt einrichten und heimisch werden zu können.[2] In Artikel 25 Absatz 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es entsprechend:

Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.

Und in Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpakts wird festgehalten:[3]

Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden Menschen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an.

Die Angemessenheit wird an Kriterien festgemacht.[4] Dazu gehören ein gesetzlicher Schutz des Wohnens[5], das Vorhandensein von Trinkwasser, Heizmöglichkeiten, Energie, die Bezahlbarkeit des Wohnraums, die Gewährleistung der Bewohnbarkeit durch Schutz vor Kälte, Regen, Wind, Hitze und eines diskriminierungsfreien Zugangs zu Wohnraum sowie die Situierung an einem geeigneten Standort hinsichtlich Infrastruktur wie Nähe zu Schule, Kindergarten, ÖPNV, gesundheitlicher Versorgung oder Lebensmittelläden. Fehlt angemessener Wohnraum, so sind in Folge auch Menschenrechte wie das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Teilhabe usw. gefährdet. [6]

Damit wird das Recht auf einen angemessenen Wohnraum als zu verwirklichendes Ideal für eine Wohnpolitik der Vertragsstaaten und letztlich auch als zu verwirklichendes Ideal der Wohnpolitik hier in Kerpen formuliert, um das Recht auf angemessenen Wohnraum für alle Menschen zu gewährleisten. Eine entsprechende, dazu passende Absichtserklärung findet sich dann auch im Handlungsprogramm Sozialgerechtes Bodenmanagement Kerpen:[7]

Darüber hinaus verfolgt die Kolpingstadt Kerpen mit ihrem Prozess des Baulandmanagements das Ziel, in ausreichendem Umfang und zur richtigen Zeit preiswertes und bezahlbares Wohnbauland für alle Kreise der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.

 

3. Wohnungspolitik in der Wirtschaftsordnung bürgerlicher Nationalstaaten

Die Herstellung und Vergabe von Wohnraum ist in unserer Waren-Konsum-Gesellschaft marktwirtschaftlich organisiert. Mit der ausufernden Privatisierung öffentlichen Wohnraums und der Abschaffung der sogenannten Wohnungsgemeinnützigkeit seit dem Ende der 1980er Jahre kann die private Wohnungswirtschaft frei von jeglicher Verantwortung auch über diesen wichtigen Sektor menschlichen Lebens mehr und mehr verfügen und allein profitorientiert agieren. Beispiele aus Kerpen sind die Situation der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Erftland oder die LEG-Wohnanlage Buchenhöhe in Kerpen Horrem.

Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Erftland mbH agiert nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Mithilfe einer Holding-Konstruktion wurden 2008 (?) in die Eigentümerkommunen Kerpen, Bedburg, Elsdorf und Bergheim für klamme Haushalte 17 Millionen Euro abgeführt, sodass infolge 400 Wohnungen privatisiert werden mussten und die Erftland gezwungen war, maximale Profite zu erwirtschaften und somit der soziale Wohnungsbau zum Erliegen kam. [8] Die Folge ist, dass sie seit dem nicht in der Lage ist aufgrund ihrer finanziellen Situation infolge der Überschuldung aufgrund der Kapitalentnahme und der Situation am Markt – wegen des schlechten Investitionsklimas bleibt der Neubau von mit öffentlichen Mitteln geförderten Sozialwohnungen wenig attraktiv und es ist lukrativer, Wohnungen im mittleren und oberen Preissegment ohne Mietpreisbindung zu bauen –, den dringend benötigten preisgebundenen, aber nicht gewinnträchtigen Wohnungsbau zu erstellen. Nach telefonischer Auskunft in 2014 sei der Neubau von Sozialwohnungen angesichts der aktuellen Mietpreise ein Verlustgeschäft für die Erftland. Erst in 2022 hat sie m.W. in Kerpen in Neubottenbroich erstmals wieder Sozialwohnungen gebaut. Von den dort errichteten 27 Wohnungen sind 14 Wohnungen für Personen mit Wohnberechtigungsschein vorgesehen.

Der landeseigene Wohnraumversorger LEG wurde in 2008 vom Land NRW durch die damalige CDU/FDP-Regierung an einen Private Equity Fond verkauft und firmiert inzwischen als LEG Immobilien SE. Hauptanteilseigner sind z.B. BlackRock Investment Management Ltd., Cohen & Steers Capital Management Inc., Rothschild Co. Asset Management SCS oder Goldman Sachs Asset Management BV.[9] Die Folgen dieser Privatisierung öffentlichen Eigentums kann mit ihren bekannten Auswirkungen auch in Kerpen studiert werden. Die LEG-Wohnanlage in der Horremer Buchenhöhe 4 – 9a mit 140 Wohnungen ist Dauer-Gegenstand von Gremien im Kerpener Rat, der extra einen Runden Tisch Buchenhöhe eingerichtet hat. Die Mehrheit der ungefähr 1000 Bewohner*innen, unter ihnen ein Drittel Minderjährige, sind Empfänger von Bürgergeld. Dies führt dazu, dass das Mittel „Mietminderung“, um einen säumigen Eigentümer zu bewegen, Minderleistungen oder Probleme, etwa unverschlossene und vermüllte Keller, Fehlen eines Hausmeisters, nicht funktionierender Fahrstuhl, defekte Heizungsanlage etc., zu beseitigen, grundsätzlich nicht greift. Denn die Mieten werden vom Jobcenter bezahlt. Und die Mieter hätten von der einbehaltenen Miete nichts.

War es aber den Bürger*innen in Zeiten vor der Privatisierung möglich, Misstände bei der Leistungserbringung des Wohnraumversorgers direkt mit den kommunalen bzw. Landesbehörden zu diskutieren, ist es dies nun nach der Privatisierung nicht mehr. Nachträglich kann das Land NRW bei dem neuen Eigentümer für Fälle der Nichterbringung oder Minderlieferung von Leistung nichts mehr erwirken. Das die Mieten zahlende Job-Center Kerpen stellt einfach fest, dass es nicht Vertragspartner des neuen Eigentümers ist und damit nicht das Recht hat, Mängel in der erbrachten Dienstleistung mit Mietminderung zu quittieren. Auch die Stadt Kerpen verweist an den privaten Eigentümer. Der ist aber für die Bürger*innen nach der Privatisierung nun nicht mehr greifbar, etwa aufgrund ihrer Rechte als Staatsbürger*innen. Platt ausgedrückt: Die Eigentümer der LEG Immobilien SE können für ein Missmanagement nicht bei den nächsten Landtagswahlen abgewählt werden. Fazit: Nicht nur Minderleistungen und Standardabbau sind die Folge des "Privat kann es besser als der Staat", sondern auch ein eklatanter Verlust von Demokratie in unserer Gesellschaft, hier vor allem für die Menschen, die auf Leistungen wie bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind. - PS: Die LEG AG zahlte 2024 ihren Aktionären eine Dividende von 2,45 € je Aktie aus.

Dass unter solchen Bedingungen vor allem Menschen mit hohem Einkommen bzw. Vermögen gut versorgt werden, ist erwartbar und verständlich, denn hier lassen sich über Verkauf und Vermietung von Wohnraum noch höhere Gewinne erzielen.

Ein Beispiel ist das Baugebiet „Am Lechenicher Weg“ in Blatzheim, das von der Kommune im gemeinsamen Handeln von Verwaltung und Rat nach Bauplanungsrecht unter den herrschenden Marktbedingungen, den sich die Ratsmehrheit nicht entziehen wollte,[10] zur Wohnraumversorgung entwickelt wurde. So wurden hier 31 Baugrundstücke auf 15.443 qm u.a. nach dem Kriterium der Ortsbezogenheit von Bewerber:innen vermarktet, während im gleichen Bebauungsplangebiet lediglich 1780 qm für 14 Wohneinheiten im Rahmen des öffentlich geförderten Wohnungsbaus entwickelt wurden. Das Verhältnis nach Wohneinheiten beträgt also 31 % für sozialen Wohnungsbau – was nicht einmal der festgelegten Quote von 38 % entspricht – und nach Flächenverbrauch nur 10 %. Ein eklatantes Missverhältnis. Denn laut Zensus 2011 gehören 49,3 % der Einwohner:innen Kerpens zu den Geringverdiener:innen-Haushalten. Angemessen wäre also m.E., einen Anteil von 50 % der Bauflächen für die Versorgung von Geringverdiener:innen und den unteren Mittelstand vorzusehen, statt wie hier nur 10 %.

Die Politik als solche hat im Verhältnis zum Bereich der Ökonomie und des Marktgeschehens nur eine Aufgabe, nämlich die Ungleichverteilung von Ressourcen in der Ökonomie und ihre Folgen zu identifizieren und durch Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen zum ökonomischen Geschehen für Abhilfe zu sorgen. Politik heißt nicht, mit einer konservativen Mehrheit einer Koalition der Willigen im Rat seine Interessen durchzusetzen und sie dann zu verwalten und im Übrigen die Ungleichverteilung gesellschaftlicher Ressourcen und ihre Folgen zu ignorieren, wie es aus meiner Sicht hier am Lechenicher Weg der Fall war. Dies ist erkennbar lediglich populistische, weil interessengeleitete und damit egoistische Klientelpolitik – also eine schlechte Karikatur von Politik i.e.S.

Politik i.e.S. von Politik gibt es in dieser Hinsicht m.E. nur und ausschließlich dann, wenn die Benachteiligten, die unter ungleicher Verteilung von Ressourcen leiden, zum Thema werden und sich das politische Handeln aufgrund seines Tuns ihnen gegenüber rechtfertigen kann. In Bezug auf das Thema Wohnen heißt das: Wenn sich das versorgungspolitische Ziel einer angemessenen Wohnraumversorgung nicht gerecht für alle und nicht nur für solvente Bevölkerungsgruppen über den Markt erreichen lässt, hat die Politik die Aufgabe, bei Versorgungsproblemen hinsichtlich Zugang zu und Verfügbarkeit bzw. Bezahlbarkeit von Wohnraum zu ermitteln, welche Bedarfsgruppen auf Hilfe angewiesener Haushalte zu identifizieren sind, und die ihr zur Verfügung stehenden Mittel, das sind Subjekt- bzw. Objektförderung, also etwa Wohngeld oder Fördermittel für den Bau von Sozialwohnungen, einzusetzen, um erfolgreich gegensteuern zu können.

 


[1] Zitiert nach: www.mlwerke.de/me/me18/me18_209.htm

[2] Insofern die menschliche Existenz ein Anfang und ein Ende hat, ist Wohnen immer etwas Vorübergehendes, nichts Dauerhaftes. Der Wunsch, eine Unterkunft besitzen, vererben zu wollen, sich mit einem Ort identifizieren zu wollen, sich zu verwurzeln bis hin zum Loblied auf Blut und Boden ist damit nicht nur rücksichtlos gegen andere, sondern, weil illusionär, auch gegen sich selbst. Vgl. Martin Heidegger, 2000, Bauen, Wohnen, Denken, Frankfurt; Donatella di Cesare, 2021, Philosophie der Migration, Berlin, Ss. 188-198.

[3] Der Sozialpakt wurde 1973 in beiden Teilen Deutschlands ratifiziert.

[4] Vgl. www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/wirtschaftliche-soziale-und-kulturelle-rechte/recht-auf-wohnen

[5] Artikel 13 Grundgesetz sichert zwar die Unverletzlichkeit der Wohnung, enthält aber kein Recht auf Versorgung mit Wohnraum und bietet auch keinen Schutz vor Zwangsräumung, Eigenbedarfskündigung bzw. Mieterverdrängung/Gentrifizierung.

[6] So ist erwartbar, dass Menschen, die in beengten, überbelegten Wohnräumen leben müssen, in Zeiten wie der Corona-Pandemie von einem besonders hohen Infektionsrisiko betroffen sind. Eine Anfrage der Linksfraktion Drs. 186.21 nach einer kleinräumigen Analyse zum Infektionsrisiko in den jeweiligen Sozialräumen während der Coranapandemie wurde uns aufgrund von Datenschutzgründen leider verweigert.

[7] Vgl. Drs. 420.17, am 07.11.2027 wurde diese Version III des Bodenmanagementkonzepts vom Rat einstimmig beschlossen.

[8] Vgl. Norbert Kurth, 2008.12.04, Die Mieter sind die Dummen, in: Kölner Stadt-Anzeiger.

[9] Vgl. de.marketscreener.com/kurs/aktie/LEG-IMMOBILIEN-SE-12467148/unternehmen-aktionare/

[10] Vgl. etwa unseren Antrag hierzu unter Drs. 83.18.