Schlechte Aussichten oder: Die Nostalgie als Symptom im Programm von Parteien wie dem Bündnis Sahra Wagenknecht

Thomas Ristow

Als Reaktion auf die Enttäuschung der Moderne entsteht ein Hang zu autoritären Lösungen und zur allgemeinen Realitätsverweigerung, u.a. erkennbar am sich ausbreitenden nostalgischen Wunsch, sich in Vergangenes zu flüchten, bis hin zu vormodernen völkischen Zugehörigkeiten inklusive dazu passender Herrenvolkmentalität – dies zeigt der Zulauf zu politischen Gruppierungen mit Bezug auf Völkisches, Nationales oder sonst längst Vergangenes einer Welt, die es so nicht mehr gibt und auch nie wieder geben wird, wie die Ära Brandt oder die Ära Helmut Schmidt. Die Folge ist: Es gibt ein wachsendes Panoptikum von Verwirrten  in der Politik und den Regierungen des Westens, auch hierzulande, und es gibt immer mehr von denjenigen, die ihnen und ihrer Propaganda glauben und sie wählen.

Der nostalgische Wunsch, in einen imaginierten umsorgten früheren Zustand zurückzukehren, wo in der heimischen mittelständischen Industrie ohne Bedrohung durch "übermächtige" Großkonzerne und Finanzunternehmen - das Muster schaffendes vs. raffendes Kapital ist unschwer zu erkennen - und ohne Konkurrenzdruck durch Zugewanderte und Geflüchtete - für deren "Probleme" soll irgendwie in ihren Herkunftsländern Abhilfe geschaffen werden - die "Fleißigen" arbeiten bei "gutem Lohn" - das gute alte Loblied der Arbeit! -, und eine fast schon religiös anmutende Technologiegläubigkeit , die die Lösung der aktuellen Fragen von Klimakatastrophe und Umweltzerstörung einfach ausblenden kann, sind kennzeichnend etwa für das 4-seitige Parteiprogramm "Unser Parteiprogramm" des Bündnis Sahra Wagenknecht.

Sicher: Die letzten Jahrzehnte mit ihren nutzlosen Verausgabungen bis hin zu einer allgemeinen Übersättigung in allen Bereichen unserer bürgerlichen Welt zeigen: Gerade wegen der steigenden Produktivität unserer immer stärker global vernetzten Ökonomie sinkt gleichzeitig die Möglichkeit, das Einkommen innerhalb der Gesellschaften des Westens gerechter zu verteilen, vgl. Oliver Nachtwey, 2016, Die Abstiegsgesellschaft, Frankfurt/Main. Die Folge ist, dass die immer wieder beschworenen Versprechungen von Fortschritt, Entwicklung und sozialem Aufstieg sich immer mehr als nicht einlösbar oder fehlerhaft entpuppen. Die Menschen sind gezwungen, um ihren erreichten Lebensstandard nicht zu verlieren, die bestehenden sozialen Verhältnisse in Frage zu stellen. Aber warum richtet sich dieser Aufstand gegen die berechtigten Interessen der Migrant:innen und Ausländer:innen statt gegen die Oberschichten? Warum wird geradezu mit einer Besessenheit das Trauma des einheimischen, männlichen, weißen Arbeiters analysiert und die Lage der unterbezahlten weiblichen oder rassialisierten Arbeiter:innen hierzulande übersehen?

Die Nostalgie für eine auf Gewerkschaftslöhnen basierende, fordistische Industriewirtschaft ignoriert, dass eine solche Wirtschaft immer sowohl durch kolonialen Extraktivismus als auch durch die rassialisierte, geschlechtsspezifische Niedriglohn-Dienstleistungswirtschaft subventioniert wurde. (Harsha Walia, 2023, Gegen Öko-Apartheit, Berlin)

Die Verdrängung des globalen Kontextes unserer Ökonomie ist kollektiv und wurzelt in der jahrhundertelang gepflegten patriarchalischen imperialen Lebensweise - vgl. Stephan Lessenich, 2018, Neben uns die Sintflut, München - als integraler Bestandteil unseres in Europa entwickelten Modells des bürgerlichen Nationalstaats. Dennoch oder gerade deswegen ist dies kein Grund sich damit abzufinden und sich mit der Programmatik von Parteien wie dem BSW zufriedenzugeben, in deren Agenda Migrant:innen und Frauen, Reproduktion und Care-Arbeit und die Herausforderungen des Klimawandels nicht oder nur marginalisiert vorkommen.

Und unter diesem Gesichtspunkt stellt es eben keinen Widerspruch dar, sich nicht nur gegen Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung, sondern auch von Natur und Umwelt, gegen Gewalt und Patriarchat und "gegen alles, was den Einzelnen an sich selbst bindet und dadurch seine Unterwerfung unter die anderen sicherstellt",1  gemeinsam mit den Arbeitenden, den Migrant:innen, den Frauen, den Klima- oder den Gender- und LGBTQ-Aktivist:innen einzusetzen.2


1 Michel Focault, 2007, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt/Main, S. 86.

2 Vgl. auch hierzu: Sandro Mezzadra, Mario Neumann, 2017, Jenseits von Interesse & Identität. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968, Hamburg.

Die Corona-Pandemie bietet Chancen für emanzipatorische Politik

Thomas Ristow

Die Corona-Pandemie entfaltet sich aktuell weiterhin dynamisch und die einhergehenden Versuche der Politik überall auf unserem Globus, ihre Folgen einzudämmen, ebenso. Um die Ansteckungsgefahr niedrig zu halten und die Überlastung der Gesundheitssysteme zu vermeiden, kommt es weltweit zu massiven Einschränkungen von Freiheitsrechten, empfohlen von die Exekutive beratenden Ärzten, Virusexperten und Epidemiologen: Gesellschaft wird auf Notbetrieb umgestellt mit Versammlungs- und Kontaktverbot, mit Quarantänemaßnahmen bis hin zum Ausnahmezustand oder einer Seuchendiktatur etwa in China. Aber selbst hierzulande regiert nun der Staat selbst bei mir und meiner Familie zu Hause („Homeschooling“, „Homeoffice“ oder wer und wie viele mich besuchen dürfen). Der Nationalstaat zeigt sich als der, der er im Kern ist: ein biopolitisches Projekt der Demografie- und Hygienesteuerung seiner Bevölkerung. Es sind gerade die Bilder von militarisierten, menschenleeren Innenstädten, die an das Emblem von Hobbes‘ Leviathan erinnern – einer Stadt ohne ihre Bewohner*innen, allein bevölkert von bewaffneten Wachleuten und zwei Pestärzten – einem Symbol für die biopolitische Wende, die mit Hobbes' Werk Einzug hält in das moderne politische Denken.

Dies ist eine Zeit, wie gerufen, für die nun „sinophilen“ Anhänger*innen neoliberaler, nationalistischer, autoritärer und rassistischer Regierungstechniken. Demokratische Diskussion erübrigt sich für Anhänger*innen dieser Politiken. Sie sind begeistert von dem Zustand, dass nun der Sachzwang alternativlos als Common Sense zu regieren hat und kompetente Technokraten das Sagen haben, dass die Regierungsvorlagen einfach durch gewunken werden und für die allgemeine Bevölkerung die Inkompetenz-Vermutung gilt. – Schulbeispiel ist hier in Europa das Illiberale-Demokratie-Projekt a la Carl Schmitts „Demokratie geht auch ohne Parlament, wenn nur die Gesellschaft homogen ist“ Victor Orbans in Ungarn. In solchen Projekten, wie sie Carl Schmitt 1933 in seinem Text „Staat, Bewegung, Volk“ charakterisierte, kommt dem Volk keine andere Rolle und Funktion zu, als zu wachsen, zu gedeihen, sich gesund zu halten, sich zu vermehren. Aufgefasst wird im dreigliedrigen Staatsgefüge von Carl Schmitt „das Volk als die im Schutz und Schatten der politischen Entscheidungen wachsende unpolitische“ Komponente, gleichsam als eine zu pflegende Nutzpflanze oder zu pflegendes Nutztier. Ruhe ist hier die erste Bürgerpflicht und Selbstdisziplin ist gefragt, gerade aber eben nicht der öffentliche Ausdruck von Souveränität.

Trotzdem ist die Abwehr solcher Versuche, auch der eigenen Bequemlichkeit gegenüber, sich unbewusst an eine Widerspruchslosigkeit in politischen Dingen zu gewöhnen, nicht die einzige Aufgabe linker Politik in Zeiten der Corona-Krise. Denn für viele Menschen bleibt auch in der Pandemie-Situation klar: Unser nacktes Leben, unsere bloße biologische Existenz ist nicht das einzig Erhaltenswerte. Wir sind nicht alle bereit, für das nackte Leben unsere Souveränität aufzugeben, denn zu recht, wie Agamben sagt, gilt: „Das nackte Leben – und die Angst, es zu verlieren – ist nicht etwas, was die Menschen verbindet, sondern, was sie trennt und blind macht.“ – also zu einer unpolitischen Bevölkerung machen würde, wie sie Carl Schmitt im Konzept des nationalsozialistischen Staats vorschwebt.

Denn nicht nur unser Leben, sondern auch sämtliche sozialen Institutionen sind vom Zerfall bedroht. Um unsere Gesellschaft gerade auch in Krisenzeiten auf einem zivilisierten Stand halten zu können, müssen die sozialen Institutionen, die unsere Lebensbedingungen regeln, soziale Beziehungen, Freundschaften, Meinungsvielfalt, Genuss und Freude ermöglichen, nicht nur gepflegt, sondern aktualisiert werden, um sie anpassungsfähig zu halten. Unsere zivilisatorischen Errungenschaften werden also nicht nur auf die Probe gestellt und bedroht aufgrund der medizinischen Notlage und angesichts von Massengräbern, sondern verlangen nach einer Neuaushandlung statt eines konservativen Weiter-Sos. Wir begreifen als LINKE das in diesen Tag oft zu hörende, dramatisch klingende und wohl mit absichtlich Panik verbreitender Rhetorik vorgetragene „Nichts wird hinterher so sein, wie es einmal war“, daher vielmehr positiv, nämlich als Aufforderung und Chance für einen Neuanfang: Eine andere Welt ist möglich, wir müssen nur das Politische und das Utopische für uns wiedererobern.

Denn man sieht, dass es auch ohne geht: ohne Kündigungen bei Mietrückständen und Ticket-Kontrollen im ÖPNV oder Sanktionen bei Hartz IV, selbst Verstaatlichung oder Planwirtschaft sind wieder denkbar und die Schwarze Null erscheint verzichtbar. Und noch wichtiger – das zeigt sich auch in diesen Zeiten der Pandemie: Es gibt die Bereitschaft zur kollektiven Solidarität, die es zukünftig von uns weiter zu stärken gilt. Denn die Pandemie führt uns letztlich auch vor Augen und in Erinnerung, dass nicht nur in der medizinischen Notlage des Fehlens von Beamtungsgeräten Ärzte unterscheiden zwischen lebenswerter und unlebenswerter Existenz von Menschen, sondern dass Selektion strukturell ist – schließlich leben wir in einer Externalisierungsgesellschaft – und Selektion täglich auch in unserem Namen ausgeübt wurde und wird, nicht nur auf unseren Ämtern, sondern auch an unseren Grenzen. Hier anzusetzen und an einem Neuanfang mitzuwirken – auch vor Ort – begreifen wir als LINKE. Kerpen derzeit als unsere wichtigste Aufgabe.

Die falsche Hoffnung auf Erlösung durch Unterwerfung

Kommentar zur Situation vor der Stichwahl zur Bürgermeisterwahl in Kerpen

Thomas Ristow

Besonders anschaulich für die derzeitige Stimmungslage in der Kerpener Politik ist etwa die Stellungnahme der Kerpener Pirat*innen: Sie sind mutlos. Sie wollen, wie die Kerpener CDU ihren Kandidaten Spürck bewirbt, keine Experimente, sondern Kontinuität. Dabei ist gerade in Zeiten der aktuellen Corona-Pandemie und ihren ökonomischen Implikationen und aufgrund des anstehenden ökonomischen Strukturwandels in unserer Tagebauregion genau das Gegenteil gefragt: Mut und die Bereitschaft, Experimente zu wagen, neue Wege zu gehen, um diese Situation politisch i.e.S. von Politik bewältigen zu können, nämlich hinsichtlich ihrer sozialen und ökologischen Dimension. Kontinuität ist da einfach zu wenig.

Denn es ist gerade die angeblich so wichtige Kompetenz in der Verwaltungsarbeit bei Herrn Spürck, die aus meiner Sicht nichts Gutes für die zukünftige Politik in Kerpen bedeutet: So konnte man in den letzten fünf Jahren einen fortwährenden Abbau der parlamentarischen Repräsentation konstatieren: (1) Immer mehr Entscheidung wurden von nicht-verantwortlichen Instanzen souffliert, erkennbar an der Zunahme der Beratung durch Externe, die sogenannten "Experten". (2) Andererseits wurden Dringlichkeitsentscheidungen immer öfter praktiziert - zu Lasten der offenen Verhandlung im Rat.

Haben sich wie in Kerpen unter einem konservativen Bürgermeister, der "Verwaltung kann", die konservativen Verhältnisse erst einmal verfestigt, werden die Schlüsselpositionen in der Verwaltung natürlich von der erfolgreichen Partei besetzt. Mit Trump begründet sich das dann so: "Wir wurden in eine Position der Macht und Bedeutung gesetzt, um Entscheidungen für das Volk zu treffen, das uns so stolz gewählt hat."[1] Die Verwaltung wird so immer mehr monopolistisch auf eine Partei ausgerichtet. Erkennbar zuletzt m.E. an den Winkelzügen bei der (Nicht-)Besetzung der Position des Ersten Beigeordneten. Wie hier noch andere Sichtweisen auf die Behandlung von Projekten in der Kommunalarbeit oder bei der Mitwirkung der  Bürger*innen möglich sein sollen, steht dann dahin.

Politik heißt nicht, mit einer konservativen Mehrheit einer Koalition der Willigen im Rat seine Interessen durchzusetzen und sie dann zu verwalten, wie es aus meiner Sicht in den letzten fünf Jahren der Fall war, und im Übrigen die Ungleichverteilung gesellschaftlicher Ressourcen und ihre Folgen zu ignorieren. Politik i.e.S. von Politik gibt es m.E. nur und ausschließlich dann, wenn die Benachteiligten,[2] die unter ungleicher Verteilung von Ressourcen leiden, zum Thema werden und sich das politische Handeln aufgrund seines Tuns ihnen gegenüber rechtfertigen kann. Ranciere 2002, Das Unvernehmen, Suhrkamp: Frankfurt/Main, hält in seinen Ausführungen S.24 über das, was Politik i.e.S. ist, deutlich fest:

Es gibt Politik, wenn es einen Anteil der Anteillosen, einen Teil oder eine Partei der Armen gibt. (…) Politik existiert, wenn die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbrochen ist durch die Einrichtung eines Anteils der Anteillosen. (…) Außerhalb dieser Einrichtung gibt es keine Politik, nur Ordnung der Herrschaft und Unordnung der Revolte.

Indem ich mich dem anschließe, heißt das demnach: Politik ist gerade nicht gelungen in der vergangenen Ära unter Bürgermeister Spürck und wird m.E. auch in den Erwägungen einer erneuten konservativen Mehrheit im Rat unter einem Bürgermeister Spürck keine Rolle spielen, wenn etwa weiterhin der soziale Wohnungsbau vernachlässigt wird, z.B. keine feste Quote für ihn geschaffen wird, oder die bestehende Kinderarmut oder Altersarmut zu keiner wesentlichen Änderung im Verwaltungshandeln hier in Kerpen führt, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Dass die Kerpener GRÜNEN nun ebenfalls nicht den Mut besitzen, mit einer klaren Haltung in der Bürgermeister-Stichwahl sich für Politik i.e.S. und gegen eine postdemokratische Regierungspraxis unter Bürgermeister Spürck zu entscheiden, lässt ebenfalls nichts Gutes für Möglichkeiten künftiger Politik in Kerpen erwarten: einen Anteil der Anteilslosen an den sonst ungleich verteilten Ressourcen im notwendigen Maß durchzusetzen, gleich, ob im Sozialen oder Ökologischen  – darauf wird man wohl weiterhin vergeblich hoffen müssen.

Aber noch können sich die Wähler*innen ja selbst entscheiden: für ein unpolitisches Weiter-So oder einen Neustartversuch ins Politische unter einem Bürgermeister Andreas Lipp.


[1] Vgl. Daniel Dillmann, 2020, Ruth Bader Ginsburg: Donald Trump liebäugelt mit kontroverser Nachfolgerin, in: Frankfurter Rundschau 20.09.2020

[2] Und hierzu zähle ich im weiteren Sinne auch die uns umgebende Natur, kurz: nicht nur das Soziale, sondern auch das Ökologische.

Für einen emanzipatorischen Kommunismus!

Jan Schiffer e.a.

Etwas läuft falsch in dieser Welt:

Täglich sterben Menschen an Hunger. Das wäre traurig, aber noch verständlich, wenn dies an einer zu geringen Nahrungsmittelproduktion liegen würde. Doch das ist nicht das Problem: Das Essen fehlt nicht, weil es zu wenig gibt, es gibt sogar eine Überproduktion. Die Verhungernden sterben, weil die Hungernden nicht genug Geld haben, es zu erwerben. In den kapitalistischen Kernstaaten gibt es dieses Problem nur noch sehr selten, auch wenn viele Bevölkerungsschichten ständig von Armut bedroht sind. Doch auch bei denen, bei denen dies nicht gegeben ist, ist das Leben alles andere als schön: Burn-outs und Co. gehören zum Alltag, die Freizeit wird immer weiter zur bloßen Erholungsphase mit dem Ziel der Wiederherstellung der Arbeitskraft. Doch eigentlich sollte überlastende Arbeit gar nicht mehr nötig sein: Durch die Automatisierung wird immer mehr notwendige Arbeitszeit von Maschinen übernommen. Super! Oder? Tatsächlich schlägt diese eigentlich begrüßenswerte Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen ins negative um: Arbeitsplätze gehen verloren und Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage.

Klar ist also: Die aktuelle Art zu Wirtschaften ist menschenfeindlich und unvernünftig. Doch wie kommt dies zustande? Mit welchen Begriffen lassen sich die Ursachen für dies alles erfassen? Und wie kann man eine Alternative denken? Wo lassen sich Analyseansätze hierfür finden?

In diesem Jahr jährt sich die Geburt eines Denkers, der gesellschaftskritische und linke Strömungen wie kein anderer beeinflusst hat: Karl Marx. Seine Kritik des Kapitalismus sah nicht nur die barbarischen Konsequenzen, die dieser v.a. für die Arbeiter*innen hatte, sondern führte sie auf die grundlegenden Kategorien des auf der Warenform basierenden Kapitalismus zurück, anstatt sie, wie es damals und auch heute viele, die sich für links halten, tun, auf das vermeintlich böse Handeln einzelner Personen(-gruppen) zurückzuführen. Zugleich dienten seine politökonomischen Analysen nicht einfach nur dem Interpretieren und Verstehen des Kapitalismus, denn es kommt darauf an die Welt zu verändern (vgl. Feuerbachthese 11). Seine Leistung liegt darin, den Sozialismus von einer reinen Utopie zu einer durch reale Politik erreichbaren Möglichkeit zu machen. Es geht Marx und Engels um wissenschaftlichen Sozialismus. Sie begreifen Geschichte nicht als eine Aneinanderreihung von Taten großer Männer, sondern als eine Geschichte von Klassenkämpfen. Sie – und im Anschluss der Marxismus – analysierten die Verhältnisse aktuell wie auch auf Grundlage des historischen Materialismus und schmiede(te)n diese Analysen zu einer Waffe im Klassenkampf um. Marx versuchte, die Potentiale, die sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergeben, zu erkennen und den daraus resultierenden Klassenkampf zu begreifen, der die Fesseln der Produktionsverhältnisse sprengen will, die viele ausgebeutet in der Subalternität halten und wenige profitieren lassen. Dabei ist Marx' Intention stets nicht eine Wissenschaft um ihrer selbst willen, sondern eine Wissenschaft, die dem revolutionären Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Befreiung aller Unterdrückten dient, zu begründen.

Er erkannte:

Die Welt, die uns im Alltag natürlich und vor allem selbstverständlich erscheint, ist eine Welt der Warenproduktion. Der größte Anteil aller produzierten Dinge sind Waren, die auf einem Markt gegen Äquivalente getauscht werden, egal, ob es sich dabei um Wohnraum, Nahrung, Computer oder Satelliten handelt. Als allgemeine Ware hat sich dabei das Geld entwickelt, welches die Grundlage und zugleich die Folge des Tauschprinzips bildet. Eine besondere Ware, die kein Ding ist, stellt die Arbeitskraft des Menschen dar, die von der übergroßen Mehrheit der Gesellschaft gemeinsam mit der eigenen Lebenszeit verkauft werden und so vom Arbeiter entfremdet werden muss, um Reproduktionsarbeit zu leisten, oder Waren zu produzieren, die dem Käufer der Arbeitskraft als Privateigentum zustehen. Privateigentum bedeutet das staatlich geschützte Monopol auf die Verwendung einer Sache.

Die Warenproduktion findet zu Profitzwecken statt. Die Unterordnung der gesamten gesellschaftlichen Produktion unter den Zweck der Anhäufung von Kapital (also Geld, was investiert wird, um mehr Geld zu erhalten) führt dazu, dass die Wirtschaft nicht den Bedürfnissen dient. Der Kapitalismus scheitert also nicht aufgrund irgendwelcher böser Machenschaften daran, ein gutes Leben zu erreichen – dies ist gar nicht sein Ziel.

Und hatte Marx auch eine Alternative hierzu? Diese Frage stellen sich wohl einige. Doch anstatt dem Kapitalismus in der Manier eines Verkünders vollendeter Weisheit eine genau ausgearbeitete Gesellschaftsorganisation entgegenzusetzen, kritisierten Engels und er genau dies. So schrieb Engels:

Aber wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefaßte Meinungen in bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden“. (http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_538.htm)

Der Kommunismus war für Marx und Engels also keine fertige Utopie, die sie konkret zu Ende gedacht und geplant haben. Genau so wenig ist der Kommunismus ein rein abstrakter Begriff, über den sich zwar schön philosophieren lässt, aber der sich nur im Geiste verwirklichen lässt. Auch wenn Marx in seiner Frühschrift Ökonomisch-Philosophisches Manuskript 1844 abstrakt-philosophische Betrachtungen über den Kommunismus anstellt, formuliert er mit Engels in der Deutschen Ideologie, die den Wendepunkt vom frühen, junghegelianischen zum reifen, materialistischen Marx markiert: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (MEW 3, S. 35)

Kommunismus ist also ein Programm, das den Kapitalismus überwindet. Genau um die Frage, wie dieses radikalemanzipatorische Programm verwirklicht werden kann, dreht sich das ganze nachfolgende marxsche Werk: Die Frage nach dem Subjekt der Arbeiter*innenklasse, die Analyse der politischen Ökonomie des Kapitalismus, die Frage nach der Theorie der Revolution.

Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist [...] die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflosung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. (http://www.mlwerke.de/me/me40/me40_533.htm)

Marx denkt den Kommunismus als Gesellschaft, in der der Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv aufgehoben ist, als Gesellschaft, in dem der Mensch durch die Umwälzung der Produktionsverhältnisse zu einer wahren Freiheit gelangen kann und seine von den Sachzwängen der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückten Potentiale entfalten kann. Kurzum: Der Kommunismus stellt die universelle Befreiung der Menschheit dar, er ist ein radikalemanzipatorisches Projekt. Dabei affirmiert Marx nicht bürgerliche Emanzipationsideale, sondern kritisiert diese:

Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht. (http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_347.htm)

Dieser Emanzipationsakt kann für Marx nur ein revolutionärer Akt sein, in dem die politischen und sozialen Verhältnisse grundlegend umgestaltet werden. Es geht, wie er in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt, darum „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385). Dieser Kategorische Imperativ des marxschen Werkes beinhaltet zugleich einen klar intersektionalen Imperativ, der keinen Platz für Nebenwidersprüche lässt, auch wenn Marx das selbst in seinem Werk nur andeutungsweise selbst eingelöst hat. Die Forderung, alle Verhältnisse umzuwerfen, heißt sowohl die Gesamtheit aller Unterdrückungsverhältnisse, als auch jedes einzelne Unterdrückungsverhältnis umzuwerfen. Das bedeutet: Es reicht nicht, einfach den Kapitalismus zu überwinden, um automatisch auch das Patriarchat zu überwinden, die Diskriminierung von Trans*personen zu beenden, etc. Diese Kämpfe müssen wie der Klassenkampf geführt werden. Das heißt aber auch, dass die Beseitigung eines einzelnen Unterdrückungsverhältnisses ohne die Beseitigung aller ebenso zu keiner wirklichen sozialen Emanzipation führen kann, sondern allein zu einer politischen Emanzipation im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Unser Kampfauftrag aber bleibt: die allgemeine und vollständige Emanzipation!


beschlossen auf dem Bundeskongress der Linksjugend solid im April 2018

Unser Anteil am süßen Leben

Thomas Ristow

Die Diskussion um den aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht, insbesondere die Skandalisierung der im Zusammenhang damit diskutierten Problematik, dass ein immer größer werdender Teil unserer Bevölkerung aufgrund des Entgelts für ihre Arbeitstätigkeit keine ausreichende Renten haben wird, wenn diese Menschen mit 67 nicht mehr erwerbspflichtig sein werden, diese Diskussion ist folgenlos geblieben. Sie hat nicht zu dem geführt, was von mit gesundem Menschenverstand ausgestatteten, aber für miese Löhne Arbeitende doch eigentlich erwartet werden müsste: die massenhafte Eigenkündigung von prekären Beschäftigungsverhältnissen durch die Betroffenen selbst. Denn diese Diskussion hat doch unmissverständlich gezeigt: Arbeiten in unserer Republik, das macht nicht nur krank, alt und hässlich, sondern offensichtlich auch noch arm. Und nutzen tut dies allein dem Profitstreben der Vermögenden in unserer Gesellschaft, den oberen 20 Prozent, die sich nach Belieben jeglicher Arbeitsdisziplin entziehen und den von ihnen nicht erwirtschafteten Reichtum ungeniert genießen dürfen. 

Die Frage, die sich immer mehr Menschen in unserer Republik stellen müssten, ist doch einfach: Wozu arbeiten wir überhaupt noch – wenn es selbst bei aufopferungsvollstem Arbeitseinsatz nicht reicht, um sich damit eine ausreichende Rente oder seinen Anteil am Wohlstand und Luxus unserer Gesellschaft mit dem Entgelt für geleistete Arbeit zu finanzieren?

Und die Antwort darauf ist doch ebenso einfach: Warum überhaupt noch warten bis zum Renteneintrittsalter? Verabschieden wir uns doch von dieser abgewirtschafteten Marktwirtschaft, die mit ihren Billiglöhnen bis hin zur demokratisch verordneten Zwangsarbeit unter Hartz IV inzwischen nur noch eins vorsieht für den Großteil ihrer Marktteilnehmer*innen: deren kulturelle, soziale und ökonomische Erniedrigung! Hören wir auf, dies hinzunehmen, und hören wir vor allem damit auf, das alte Loblied auf das Schuften, das Malochen und Sich-Schinden weiter mitzusingen! Denn:

Bei der Verherrlichung der „Arbeit“, bei dem unermüdlichen Reden vom „Segen der Arbeit“ sehe ich denselben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen: den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fühlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit — man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät —, dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hält und die Entwickelung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht außerordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer ins Auge und gewährt leichte und regelmäßige Befriedigungen. So wird eine Gesellschaft, in welcher fortwährend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben: und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an.1

Angesichts des Reichtums in unserer Gesellschaft ist ein neues Arbeitsverständnis doch längst überfällig. Arbeit muss neu organisiert und verteilt werden, so dass sich nicht länger die einen auf Kosten ihrer Gesundheit abrackern müssen, während für die anderen keine Arbeit da ist. Und: Der mit Arbeit erwirtschaftete Reichtum muss allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, um sich zu bilden, Kultur zu genießen, seine Individualität zu entfalten oder einfach nichts zu tun, statt wie bisher nur einer kleinen Minderheit produktiven Müßiggang oder unproduktive Faulheit zu ermöglichen.

1 Friedrich Nietzsche, 1960, Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, Nr. 173. Die Lobredner der Arbeit, München

Aus falscher Liebe zur Arbeit

Ema.Li NRW über Arbeit, Wert und Arbeitsfetisch

Felix Schneider

„Eines haben Marxismus und Liberalismus, Konservative und Sozialdemokrat*innen in Deutschland seit langem gemeinsam: sie vergöttern die Arbeit.“ – mit diesem provokanten Einstieg lud die Landesgruppe der Emanzipatorischen Linken (kurz Ema.Li), ein innerparteilicher Zusammenschluss in und bei der Partei DIE LINKE, zu ihrem Vortrag „Aus falscher Liebe zur Arbeit“ in die Kölner Kreisgeschäftsstelle. Der Referent Tilman Loos, Jugendpolitischer Sprecher im Landesverband Sachsen, Philosophiestudent und passionierter Raucher, scheute nicht vor der langen Anreise aus Leipzig.

Arbeit als Kampfbegriff

Der Begriff der Arbeit ist in der heutigen politischen Debatte zentral: „Arbeit sichern“ fordert die CDU ebenso wie DIE LINKE, und für die FDP muss sich „Arbeit wieder Lohnen“. Arbeitslosigkeit gilt dabei als zentrales Problem, während „Vollbeschäftigung“ zum hehren Ziel jeden Regierens erhoben wird. Herrscht nun in fast allen politischen Lagern großer Konsens zu diesem Thema, ist die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand weithin unklar. Ein Arbeitsplatz hat, wer einer bezahlten Beschäftigung nachgeht, andernfalls ist er/sie arbeitslos. Daneben stehen Begriffe wie ehrenamtliche Arbeit, Garten- oder Hausarbeit – also jede zielgerichtete schöpferische Tätigkeiten des Menschen, unabhängig von jeder Lohnzahlung.

Arbeitskraft als Ware

In  der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeitskraft, also das Ausführen von Arbeit durch Menschen, eine Ware. Der Preis für diese Ware Arbeitskraft ist die Höhe des Lohnes, den die Menschen am (Arbeits-)Markt dafür erhalten. Dieses Geld benötigen wir, weil uns die verschiedenen Mittel der Bedürfnisbefriedigung ebenfalls als Waren begegnen: Nahrung, Kleidung und Wasser ebenso wie Smartphone, Cocktails oder der Theaterbesuch.

Daraus ergibt sich de facto ein Arbeitszwang: Wer nicht arbeitet, kann sich diese Waren nicht kaufen, wird stigmatisiert und ausgegrenzt. Als Verkäufer*innen unserer Arbeitskraft stehen wir zugleich in einem Wettbewerb zueinander, in dem wir uns in Überstunden über- und in der Lohnhöhe unterbieten – eine Folge des Überangebots an der Ware Arbeitskraft.  

Das Stigma der „Arbeitslosigkeit“

Diese schlechte Situation der Lohnarbeiter*innen führt jedoch nicht zu einer Kritik der Verhältnisse, in denen Arbeit so organisiert wird, vielmehr wird eine Ungerechtigkeit gegenüber vermeintlichen Arbeitslosen beklagt. Diese leisten ihren Beitrag zur Gesellschaft nicht und leben auf Kosten derer, die arbeiten. Gerechtigkeit für Arbeitende würde bedeuten, dass es den „Anderen“ ebenso schlecht gehen soll, wie ihnen selbst – eine negative Herstellung von Gerechtigkeit. Arbeit ist dabei zentrales kollektives und individuelles Identitätsmerkmal: Der Beruf als Merkmal, an dem unterschiedliches Prestige (Marketingagentur vs. Müllabfuhr) geknüpft ist und das Arbeitslose ausgegrenzt.

Produktivitätssteigerung und politische Praxis

Wir erleben eine Zunahme der Produktivität in allen Bereichen der Lohnarbeit, die es den Menschen ermöglicht, arbeitsintensive Tätigkeiten an Maschinen zu delegieren und die dafür frei werdenden Ressourcen etwa für soziales Engagement oder Kultur zu nutzen. Die Forderung nach einem Mehr an Arbeitsplätzen und nach Vollbeschäftigung stehen im krassen Widerspruch zu dieser Entwicklung. Vielmehr braucht es realpolitische Instrumente zur Minderung des Leides durch Arbeit.

Arbeitszeitverkürzung und damit fairere Verteilung der Arbeit wäre ein solches Instrument. Ein in den verschiedensten politischen Lagern viel diskutiertes Konzept ist das Bedingungslose Grundeinkommen, kurz BGE. Aus linker Perspektive ist es die Konsequenz daraus, dass die Lebensberechtigung des Menschen nicht nur ein Recht auf Überleben, sondern zum richtigen Leben ist: Die volle Teilhabe an der Gesellschaft.

Die unsichtbare Hand oder Pinot Grigio für fünf Euro – die Zwangsläufigkeit von Lebensmittelskandalen

Thomas Ristow

Pferdefleisch-Lasagne, Betrug mit falsch ausgezeichneten Eiern, Rattengift im Romana-Salat, Gammelfleisch in der Wurst, Mandelkuchen mit Koli-Bakterien  oder krebserregende Aflatoxine in Milch und Fleisch aufgrund mit Schimmelpilzen kontaminierten Futtermaises – es vergeht kein Tag ohne die Bekanntgabe von Lebensmittelskandalen. Die Standardantwort der zuständigen Ministerin ist die Forderung nach einem harten Vorgehen gegen die Verantwortlichen. Die sind oft gar nicht greifbar, agieren supranational. Und die versprochenen Kontrollen finden letztlich auch weiterhin nur lokal, und am Schreibtisch statt. Für das fehlende, aber notwendige Personal findet sich kein Geld in den öffentlichen Kassen. 

Eigentlich haben wir uns als Konsument*innen längst daran gewöhnt und sind abgestumpft. Etliche finden es sogar normal, wenn die beanstandeten Produkte, damit sie nicht vernichtet werden müssen, Bedürftigen aufgeschwatzt werden sollen. Und das Organ der hiesigen Wirtschaftselite schreibt Durchhalteparolen der Art: Dass billig nicht immer schlecht sein muss und wie Verbraucher*innen erkennen können, ob sie im Regal nun zu genießbaren oder Ekel-Produkten greifen usw. usf. (Anm. 1) Die Kund*innen müssen schließlich bei der Stange gehalten werden. Damit die Nutznießer bei der Herstellung und Vermarktung von Lebensmitteln für die große Masse der passiven Wirtschaftssubjekte unserer Republik, nämlich die großen Lebensmittelkonzerne, auch weiterhin profitabel wirtschaften können – denn dies geht für sie ja nur mit ständigem Wachstum und unter Effizienzgesichtspunkten nach dem Motto Billig, billiger, am billigsten!

Auch in ländlichen Regionen wie Kerpen, wo man sich zum Teil noch selbst versorgen oder bei Direktvermarktern auf dem Bauernhof Lebensmittel einkaufen könnte, bleibt man von der Flut fragwürdiger, ekelerregender oder gar gesundheitsschädlicher Nahrungsmittel nicht verschont. Denn man ist auch hier letztlich angewiesen auf die Produkte aus den Supermarktregalen.

Dabei ist der Übeltäter und Verursacher für diese Flut von bedenklichen Nahrungsmitteln und anderen Ärgernissen längst ausgemacht und bekannt seit dem 18. Jahrhundert. Damals nannte der bekannte schottische Ökonom Adam Smith ihn die unsichtbare Hand. Trotzdem – oder vielleicht wegen seiner Tarnung – traut sich niemand, gegen ihn vorzugehen. Denn er versteckt sich gerade in der Art und Weise, wie wir produzieren und wie dies in unseren sogenannten westlichen Industrienationen staatlicherseits organisiert und gutgeheißen wird: Wachstums- und effizienzorientiert in einem auf Wettbewerb und Verdrängung ausgerichteten möglichst deregulierten Markt – allerdings mit dem Makel, dass dies allein zum Wohle der Unternehmungen und ihrer Geldgeber geschieht. Dies zeigen gerade die Lebensmittelskandale. Denn die große Masse der Bevölkerung kann es sich aufgrund dieser Wirtschaftsordnung gerade nicht leisten, qualitativ hochwertige Lebensmittel in Feinkostgeschäften oder teuren Bioläden zu erwerben. Nur Vertreter*innen der Eliten unserer Zivilgesellschaft  können es sich leisten, damit zu prahlen, regelmäßig für einen Pinot Grigio mehr als fünf Euro zu berappen.

Jede Kritik hieran ruft die geballte Macht der Zivilgesellschaft mit ihren Nutznießern in den Wirtschaftsverbänden, den bürgerlichen Parteien, Wissenschaft und Presse auf den Plan – damit alles so bleibt, wie die Vertreter*innen dieser herrschenden Schicht es sich darin eingerichtet haben. Angesichts dieser Situation ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass die Verbraucher*innen nur resigniert reagieren, keine Veränderungen an unserer Wirtschaftsweise einfordern und weiterhin brav alles aufessen, was ihnen vorgesetzt wird – denn Mäkeln beim Essen, das haben uns unsere Eltern schon beigebracht, ist und bleibt doch ungezogen


1 Siehe unter: http://www.zeit.de/2013/09/Billige-Lebensmittel-Kunden-Pferdefleisch

 

Lokale Utopien: andere Akzente

Thomas Ristow

Nach einer mehrjährigen innerparteilichen Debatte bei unserer holländischen Schwesterpartei Socialistische Partij (SP) über Bedeutung und Form parlamentarischer Arbeit gilt für Mitglieder der SP, die eine bezahlte Funktion aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft als Mandatsträger in den Parlamenten ausüben: (1) Kandidat*innen werden in einem Wahlkreis erst dann aufgestellt, wenn die Partei am Ort schon dauerhaft verankert ist. (2) Alle Mandatsträger*innen sind verpflichtet, in ihrem Heimatwahlkreis einmal im Monat persönlich die Parteizeitung zu verteilen, um so den Kontakt zu ihrer Basis nicht zu verlieren. Hinzukommen regelmäßige Bürgersprechstunden. (3) Wenn ihre im Parlament ausgeübte Aufgabe einer Vollzeitbeschäftigung entspricht, wie bei Abgeordneten in Bundes- oder Landesparlamenten, müssen die gezahlten Diäten an die Partei vollständig abgeführt werden, diese zahlt dann ihren Parlamentariern ein Durchschnittsgehalt. Abgeordnete in Kommunalparlamenten, die eine Aufwandsentschädigung erhalten, geben diese ebenfalls ab und erhalten von der Partei dann lediglich 25 % der Aufwandsentschädigung zurück. Nur nachweisbare Mehrausgaben werden erstattet. Abgeordnete, die sich nicht daran halten, werden zur Niederlegung ihres Mandats aufgefordert und ihnen untersagt, für die Partei zu sprechen. (4) Außerdem ist m.W. die Mitgliedschaft in Parlamenten auf zwei Legislaturperioden beschränkt.

Aus meiner Sicht müssen auch wir in der LINKEN klarer herausarbeiten, dass es bei der Teilnahme in  bürgerlichen Institutionen nicht um die individuelle Übernahme von Funktionen, sondern um die kollektive Aneignung geht, bzw. welchen Stellenwert das eine und welchen das andere hat und in welcher Reihenfolge.